(18.12.2020) Die Oberhessische Presse berichtet:
Schüler in Marburg bereiten sich auf Homeschooling vor
Für tausende Schüler in Marburg heißt es erneut: Homeschooling. Schulen wie die SVB in Ockershausen sehen sich mit ihrer App besser gerüstet als im Frühjahr. Ein Forscher warnt indes vor Folgen des Fernunterrichts.
Und wieder geht es vom Klassenraum ins Wohnzimmer: Nathalie Sorge ist eine von tausenden Schülerinnen in Marburg, die lockdownbedingt im Homeschooling unterrichtet werden. Tage, Wochen, gar Monate? Euphorisch stimmt das die 15-jährige Sophie-von-Brabant-Schülerin nicht gerade.
„Mir fehlt der Ansporn, zuhause die gestellten Aufgaben dann auch zu machen. Es ist viel schwieriger, sich zuhause zu konzentrieren, das Gelernte wirklich mitzunehmen, die Inhalte zu verstehen, zu behalten. Eigentlich will ich die Aufgaben nur schnell wegkriegen, setze mich damit nicht so intensiv auseinander wie in der Schule“, sagt sie. Zuhause wolle sie eigentlich Ruhe, Freizeit, Freiraum auch mit den Geschwistern haben.WERBUNGANZEIGE
Technisch habe sowohl die App als auch die eigene Hardware – PC, Handy, WLAN – zwar weitgehend funktioniert. Aber das Lernen, die Kommunikation über den Bildschirm, etwa Video-Chats mit Lehrern sei „mühsam“. Mehr noch: „Ich merke, dass meine Leistungen, meine Leistungsfähigkeit schwächer sind.“
SVB-Schulleiter Thomas Hesse:„Online-Unterricht ist Alltag geworden“
Doch es hilft nichts, zumindest bis Mitte Januar muss die Jugendliche die an der SVB verwendete App „Sdui“ anschalten, über Tastatur mit den Lehrern kommunizieren, Aufgaben digital lösen und versenden, vor allem am Video-Unterricht teilnehmen.
„Wir wollen den Zustand vom Frühjahr nicht mehr erleben, das war der totale Wildwuchs“, sagt Thomas Hesse, SVB-Schulleiter. Ab Mai habe es mit der App einen Testlauf gegeben, seit August ist „Sdui“ im regulären Schulbetrieb. „Wir sind für das Homeschooling gerüstet, Online-Unterricht ist in diesem Schuljahr normal, es ist Alltag geworden“, sagt Hesse und meint das nicht nur bezogen auf die von Corona-Quarantäne betroffenen Klassen.
„Für Schüler, Lehrer und Eltern ist es nichts Besonderes mehr, Homeschooling wird nun flüssiger laufen“, sagt Grundschullehrer Matthias Grün, der maßgeblich an der Entwicklung des SVB-Konzepts zum Fernunterricht beteiligt war.
Zumindest für alle, die nicht mehr im Grundschulalter sind. Denn bei den Kleinsten gehe es erstmal darum, ihnen die Anwendung von Technik beizubringen. In den ersten zwei Klassen diene die App eher als ein „Hilfsmittel zur Aufgaben-Übermittlung“ letztlich an die Eltern, die dann wiederum Ergebnisse zurückschicken. Beispiel: Grün stellt den Jungen und Mädchen die Aufgabe, ein bestimmtes Experiment durchzuführen und dieses zu filmen, in die Schul-Cloud zu laden. Das ganze wird flankiert von der Besprechungsmöglichkeit über eine Videokonferenz zu einer bestimmten Uhrzeit.
Ab Klasse 5 würden Smartphone, Tablet und die Schul-App fast wie von selbst bedient – wenn sie denn nicht so „unhandlich und nicht intuitiv“ seien wie die vom Land Hessen angedachten Plattformen, sagt Grün.
Bildungsforscher: „Homeschoolingverschärft soziale Ungleichheit“
Der Marburger Erziehungswissenschafts-Professor Eckhard Rohrmann steht dem Fernunterricht indes kritisch gegenüber. Er warnt davor, dass sich speziell bei jungen Schülern „Defizite länger durchziehen werden“. Der 64-Jährige sagte im OP-Interview: „In einem Land, in dem der Bildungserfolg sowieso schon stark von der Herkunft abhängt, ist klar, dass das Modell Homeschooling die soziale Ungleichheit noch weiter verschärft.“
Nicht alle Schüler hätten die Voraussetzungen für Homeschooling, entweder nicht die Geräte und Software oder den Zugriff auf die Computer. Was aber nur die technische Seite sei. „Es geht aber vor allem um Inhalte, um Pädagogik, Betreuung und Unterstützung. Einige Eltern können das zumindest in Teilen leisten, die einen besser, die anderen schlechter. Aber es gibt auch viele Eltern, sei es über ihre berufliche Tätigkeit und Arbeitszeiten oder mangelnde Deutschkenntnisse, die das überhaupt nicht können. Wenn dann noch die Wohnverhältnisse beengt sind, nicht alle Kinder fürs Lernen eigene Zimmer haben, der Druck in der Familie steigt, nehmen auch die Konflikte zu, das Konzentrationsvermögen ab.“ Das Resultat von all dem sei, „dass bei faktisch geschlossenen Schulen diejenigen, die es ohnehin schon schwer haben, weiter abgehängt werden. Das kann nicht im Interesse der Gesellschaft und es darf nicht im Interesse der Schulen und Lehrer sein.“
Zumindest teilweise dürfte SVB-Schülerin Nathalie Sorge ihm zustimmen. Was sie jedenfalls sagt: „In der Schule geht das Lernen – und nicht nur das – besser.“
Von Björn Wisker